Mit dem Titel "Empathie 4.0" lehne ich mich an den Artikel von Dr. Karim Fathi an: Empathie 3.0 - ein Ausweg aus dem "Empathie-Paradoxon"?
Er bezeichnet die Stufe "Empathie 1.0" mit "emotionales Einfühlungsvermögen".
Die nächste Stufe "Empathie 2.0" integriert die Selbstempathie und damit die Integration von Herz und Kopf. Fathi beschreibt es wie folgt:
"Empathie 2.0 bzw. emotionale Intelligenz liefert den Schlüssel, angemessen an die sich stets verändernden Erfordernisse in der Arbeits- und Lebenswelt, mit sich selbst und mit den Mitmenschen umzugehen. Dies beinhaltet nicht, wie im Alltagsverständnis fälschlicherweise angenommen, eine ausschließlich kooperative Verhaltensweise. Vielmehr bedeutet dies die Fähigkeit, zwischen unterschiedlichen Verhaltensstilen, angepasst an die jeweiligen Erfordernisse der Situation und der beteiligten Personen, zu variieren."
Die dritte Stufe "Empathie 3.0" umschreibt er so:
"Im Gegensatz zu Empathie 2.0 bzw. emotionale Intelligenz geht es nicht mehr nur um die Fähigkeit, die eigenen Gefühle und die Gefühle anderer wahrnehmen und intelligent mit ihnen umgehen zu können. Vielmehr geht es um die Fähigkeit, den Ursprung der eigenen Emotionen und Gedanken achtsam wahrnehmen und sie letztlich loslassen zu können. Dies erfordert in der Regel die Anwendung introspektiver Techniken (wie z.B. Meditation) und führt zu innerer Zentriertheit und Gelassenheit. Eine typische Einsicht, die sich hieraus ergibt, ist: 'Ich habe Emotionen, aber ich bin nicht meine Emotionen'. Empathie 3.0 erschließt sich auf einer tiefen Betrachtungsebene der Selbstinnenschau, in der letztlich zwischenmenschliche Empathie und Selbstempathie untrennbar miteinander zusammenfallen. Denn: Der Zustand innerer Zentriertheit führt nicht nur zu einem gelasseneren Umgang mit den eigenen Gedanken und Gefühlen – die sich ihrerseits wechselseitig beeinflussen – sondern auch zu höherem Einfühlungsvermögen. Im Fokus steht also weniger Intelligenz, sondern vielmehr Weisheit. Daher eignet sich auch der Begriff der 'emotionalen Weisheit' als Synonym für Empathie 3.0."
Nun komme ich zu "Empathie 4.0" und möchte dafür das Synonym gebrauchen: "Bewusstsein für systemische Verbundenheit".
Wie ich diese neue Dimension beschreibe und begründe, lässt sich in dem folgenden Artikel nachvollziehen, den ich in der Zeitschrift "Matrix 3000" (Ausgabe Juli/August 2015) veröffentlichen durfte und den ich nun in diesen Artikel integriere:
„Was ist eigentlich Empathie?“
Diese Frage wird sehr oft gestellt – und dann folgt eine Beschreibung, was Empathie „ist“.
Das machen wir Menschen auch in anderen Bereichen: Erst erfinden wir einen Begriff für ein bestimmtes Phänomen und später fragen wir uns, was er bedeuten soll. Dabei haben wir ihm doch selbst irgendwann einmal seine Bedeutung gegeben.
Stimmiger wäre vielleicht die Frage: Was meinte der Philosoph und Psychologe Theodor Lipps in seinen Werken mit dem Begriff „Einfühlungsvermögen“, den der Psychologe Edward Bradford Titchener im Jahr 1912 zum ersten Mal mit „Empathie“ übersetzte? Und was stellte sich Titchener während seiner Übersetzung darunter vor?
Wenn ein Mensch in der Gegenwart diesen Begriff verwendet, welche Bedeutung gibt er ihm jetzt gerade? In welchem Zusammenhang setzt er ihn ein?
Wenn wir auf diese Weise an den Begriff „Empathie“ herangehen, können wir beobachten, dass er von vielen Menschen – auch in der Wissenschaft – sehr unterschiedlich eingesetzt und mit verschiedenen Bedeutungen versehen wird. Beispiele: Einfühlung, Mitgefühl, Verständnis, prosoziales Verhalten, resonierende Empfindung, Verbundenheit, Achtsamkeit, Wertschätzung etc.
Diesen Variationen füge ich noch eine weitere Bedeutung hinzu:
Ich setze den Begriff „Empathie“ als Sammelbegriff für alle Empathie-Definitionen ein, die es gibt. Empathie ist, was jeder einzelne Mensch in einem bestimmten Moment als Empathie bezeichnet. Diese Definition gibt dem Begriff eine Weite und gleichzeitig eine Unbestimmtheit. Das bedeutet: Wir müssen uns in jedem Moment, in dem wir Menschen miteinander den Begriff „Empathie“ verwenden, darüber abstimmen, was jeder Einzelne unter Empathie versteht.
Genau hier beginnt für mich die Praxis der Empathie: Wir Menschen werden uns bewusst, dass wir uns sprachlich stark voneinander unterscheiden, so dass wir erst einmal verstehen müssen, was wir selbst unter einem Begriff verstehen, als auch wie unser Gegenüber seine Sprache gerade verwendet. Wir beginnen also, nach Verständnis zu suchen. Verständnis für uns selbst und für unser Gegenüber.
Nicht das Finden oder Haben von Verständnis, sondern die intensive Suche danach ist für mich der Kernaspekt von Empathie. Das In-Frage-Stellen aller bisherigen Vorstellungen und die Suche nach einem noch stimmigeren Verständnis und Gefühl für sich und für den anderen. Die permanente innere Haltung des „Noch-nicht-angekommen-Seins“. Oder noch anders: Das Bewusstsein für die Notwendigkeit der Suche nach dem, was im Jetzt „eigentlich“ passiert, ohne eine endgültige Antwort dafür zu erwarten.
Um über weitere Aspekte von Empathie kommunizieren zu können, habe ich mir unter diesem großen Empathie-Dach (= alle Definitionen, die es gibt) vier Empathie-Säulen herausgesucht und definiere sie wie folgt:
1. Selbst-Empathie
Das Streben danach, sich selbst immer besser verstehen und erspüren zu können.
2. Resonanz zum Umfeld
Das Streben danach, sein Einfühlungsvermögen in andere Wesen zu erhöhen, als auch seine Unterscheidungsfähigkeit zwischen eigenen und fremden Gefühlen zu verbessern.
3. Kognitive Empathie
Das Streben danach, sein Umfeld mit Verstand und Logik besser nachvollziehen zu können.
4. Mitgefühl und Achtsamkeit
Das Streben danach, sein eigenes Verhalten in jeder Gegenwart friedvoller zu gestalten, seinen Umgang mit sich und anderen mitfühlender, freundlicher, achtsamer und gewaltfrei werden zu lassen.
Die Selbst-Empathie (Säule 1) ist jedem Menschen, der sich selbst immer besser verstehen und „beherrschen“ möchte, bekannt. Ebenso die kognitive Empathie (Säule 3), denn wer versucht nicht immer mal wieder, sein Umfeld besser zu verstehen?
Auch für den Ausbau von Mitgefühl und Achtsamkeit (Säule 4) gibt es viele Seminare und eine große öffentliche Aufmerksamkeit – besonders angeregt durch den Buddhismus.
Die einzige Empathie-Säule, die sich erst in den letzten Jahrzehnten ausgeprägt hat und der Empathie eine neue Dimension verleiht, ist die Fähigkeit des Menschen, sich seiner emotionalen Resonanz zu seinem Umfeld bewusst zu werden und sie immer weiter auszubauen.
Viele gehen davon aus, dass diese emotionale Resonanz sich auf den aktuellen Kontakt beschränkt, auf die gegenwärtige Begegnung mit einem Menschen. Mit Hilfe unserer Spiegelneuronen im Gehirn können wir innerlich gefühlsmäßig nachvollziehen, was wohl der andere gerade fühlt. Erleben wir mit, wie sich der andere am Küchenschrank seinen Kopf stößt, dann verzerren wir gleichzeitig unser eigenes Gesicht vor Schmerz, als ob wir uns selbst gestoßen hätten. Wir spüren innerlich, wie sich so ein Stoß anfühlt, wenn wir an seiner Stelle gewesen wären. In unserem Gehirn sind in dem Moment die gleichen Neurone aktiv, die auch feuern, wenn wir uns selbst den Kopf stoßen. Dies ist durch die Hirnforschung inzwischen mehrfach bestätigt worden.
Doch eine relativ neue Entdeckung hat uns in den letzten zwanzig Jahren bewusst gemacht, dass es eine noch viel höhere Ebene gibt. Wir Menschen haben resonierende Empfindungen, die auf eine umfassendere Dimension aufmerksam machen. Das durch reine Beobachtung angeregte Einfühlen ist nur ein kleiner Teil davon.
Erkannt wurde dieses menschliche Potenzial durch die Erfahrungen von Stellvertretern bei Systemischen Aufstellungen.
In einer Aufstellung werden mit Hilfe von Gruppenmitgliedern stellvertretend Problemsituationen aus dem Alltag eines Teilnehmers nachgespielt, besser: nachgespürt. Dabei wird immer wieder erlebt, dass ein sich einfühlender Stellvertreter innere Zusammenhänge oder Zustände von einer Person wahrnehmen kann, die weder im Raum anwesend noch demjenigen Stellvertreter bekannt ist.
Technisch läuft es in einer Seminargruppe wie folgt ab: Ein Teilnehmer überlegt sich, welche Person aus seinem Alltag von einem Gruppenmitglied vertreten werden soll. Diese Person stellt er sich innerlich vor. Dann fragt er in die Runde, wer sich jetzt gerade angesprochen fühlt und diese „Rolle“ übernehmen möchte. Dabei teilt er niemandem mit, an wen er gerade denkt, und er gibt auch keine Informationen über diese Person bekannt. Meistens meldet sich einer, der sich bereit erklärt, die für ihn unbekannte Person zu vertreten und sich in diese Rolle einzufühlen. Der aufstellende Teilnehmer denkt an eine weitere Person aus seinem Alltag, die an seinem Problem beteiligt ist, und fragt wieder in die Runde, wer nun diese Stellvertreterrolle übernehmen möchte usw. Sind alle für die Darstellung des Problems relevanten Personen in Form von Stellvertretern vertreten, erhalten die Stellvertreter die Anweisung, spontan ihren Gefühlsimpulsen zu folgen und zu berichten, wie sie sich dabei fühlen.
Was dann entsteht, sieht für Außenstehende wie ein Improvisationstheater aus. Für den aufstellenden Teilnehmer entwickelt sich jedoch in diesem Rollenspiel ein Spiegel, in welchem er in den Äußerungen, Aktionen und Dialogen der Stellvertreter sehr exakt seine Problematik aus dem Alltag wiedererkennen kann – ohne dass er den Stellvertretern irgendeine Anweisung oder Information gegeben hat.
Der einzige Maßstab für die Stimmigkeit der Gefühle der Stellvertreter ist bei diesem Setting die Reaktion des aufstellenden Teilnehmers. Nur er kann entscheiden, dass sich hier in der Systemischen Aufstellung etwas zeigt, das er aus seinem Alltag kennt. Nur er kann wissen, ob die Impulse der Stellvertreter den jeweiligen Personen entsprechen. Das macht es so schwer, dieses empathische Resonanz-Phänomen wissenschaftlich zu greifen.
Wenn man selbst dieses Phänomen überprüft und immer wieder verschiedene Zusammenhänge des eigenen Lebens von Stellvertretern intuitiv darstellen lässt, wird man selbst erleben, wie exakt teilweise die Stellvertreter die Situationen erfassen können. Das reicht bis zu Dialogen, die spontan von den Stellvertretern genauso geführt werden, wie man es zuvor im Alltag mit den realen Personen erlebt hat. Dieses Phänomen kann also keine „Einbildung“ sein – oder gar eine reine „Interpretationsleistung“ unseres Gehirns. Hunderttausende haben dieses Phänomen selbst erleben dürfen und würden mir an dieser Stelle zustimmen. Doch sobald man versucht, wissenschaftlich zu erfassen, was hier passiert, versagen alle Experimente.
Was bleibt?
Die Suche.
Damit schließt sich der Kreis zu dem von mir oben angesprochenen „Kern der Empathie“: die permanente Suche nach Verständnis.
Die zweite Empathie-Säule (Resonanz zum Umfeld) erschließt uns eine ungeahnte Möglichkeit der Einfühlung in andere Menschen. Gleichzeitig müssen wir aber immer wieder danach suchen, ob das, was wir beim Einfühlen gerade erspüren, unsere persönlichen Gefühle sind, eine Interpretationsleistung unseres Gehirns oder tatsächlich eine Resonanz mit dem Gegenüber darstellt. Wo endet in diesen Gefühlen das Ich, wo beginnt das Du? Wann fühlen wir nur uns, wann fühlen wir den anderen und wann fühlen wir eine Mischung aus beiden?
Schauen wir uns an, wie Stellvertreter einer Aufstellung sich einfühlen, dann sehen wir:
1. Sie stellen sich einer Rolle zur Verfügung.
2. Sie konzentrieren sich auf sich selbst und beobachten ihre eigenen Gefühle und Handlungsimpulse.
Sie konzentrieren sich also nicht auf das Außen, auf einen anderen Menschen. Sie beobachten niemanden, um dann fühlen zu können, was der andere fühlt, sondern sie konzentrieren sich im Rahmen ihres Zur-Verfügung-Stehens ganz auf sich selbst.
Durch diese Konzentration auf sich selbst öffnet man das Tor zu dieser neuen Dimension der Empathie. Man gibt sich selbst eine Rolle, stellt sich einem "definierten System" zur Verfügung – dabei genügt es einfach, sich selbst innerlich zu sagen, wem man sich zur Verfügung stellt oder welche Rolle man übernimmt – und beobachtet sich dann selbst: „Wenn ich mich einem bestimmten Kontext/Menschen zur Verfügung stelle, zu welchem Menschen werde ich dann?“
Die Gefühle und Handlungsimpulse, die daraufhin in einem selbst als „Antwort“ wahrnehmbar werden, bieten oft interessante und stimmige Informationen über diesen Kontext/Menschen. Allerdings kann niemand daraus eine Wahrheit machen. Die Suche bleibt. Das auf diese Weise Wahrgenommene muss immer wieder in Frage gestellt und überprüft werden. Findet man mit Hilfe seiner anderen Sinnesorgane oder mit Hilfe eines kommunikativen Austausches eine Bestätigung seiner inneren Wahrnehmung im Außen? Bestätigt das Gegenüber, dass die Wahrnehmung zutrifft? Gehört meine Wahrnehmung zu mir oder zum anderen oder zu beiden? Die Grenze zwischen Ich und Du muss immer wieder neu erforscht werden. Selbst wenn man scheinbar gemeinsam eine Antwort gefunden hat, muss die Suche trotzdem weitergehen.
Ohne diese fortwährende Suche nach Bestätigungen lässt die Empathie nach und verwandelt sich in eine nicht empathische Dogmatik. Man verlässt die neue Dimension der Empathie und landet wieder bei einem determinierenden und damit eingeschränkten Denken und Verhalten.
Wer sich mit seiner Suche identifiziert und sich selbst wie Sokrates als Nicht-Wissender sieht, der befindet sich in einem empathischen Fluss auf höchster Ebene.
Olaf Jacobsen, April 2015